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Dieser Wolf kommt dem Menschen zu nahe

M92 ist der Leitwolf des berüchtigsten Wolfsrudels der Schweiz. Der Rüde vom Piz Beverin sollte längst tot sein. Doch er lebt. Naturschützer sammeln für ihn Unterschriften, Bündner Bauern toben – und eine Hirtin erzählt erstmals von ihrer verstörenden Begegnung.

Yann Cherix, Sebastian Broschinski
Aktualisiert am 26. November 2021

Der Novemberschnee ist da. Auf dem Piz Beverin, 2998 Meter hoch, liegen 20 Zentimeter. Mit dem Schnee – das wissen alle hier in den Dörfern der Viamala – kommt der Rothirsch, der in tieferen Lagen nach Grünem sucht. Und mit dem Hirsch kommt auch der Wolf – und damit die Probleme.

Das gilt besonders hier, auf halbem Weg zum San Bernardino hinauf. Zwischen Naturpark Beverin, Heinzenberg und Safiental hat sich das Beverinrudel breit gemacht. Berüchtigt ist es für seine zahlreichen Schafrisse, Angriffe auf Kälber und Esel; für seine Schlauheit, die meterhohe Elektrozäune überwindet. Und für seine mangelnde Menschenscheu. Während ein Grossteil der über 100 Wölfe in der Schweiz ganz natürlich Distanz zum Menschen hält, zeigen sich die Raubtiere vom Beverin vermehrt unbeeindruckt von Begegnungen mit dem Menschen.

Fachleute sprechen von problematischem Verhalten. Für die Bündner Behörden ist das Leittier, M92, dafür verantwortlich. «Seit er hier ist, macht er Probleme», sagt Adrian Arquint, Vorsteher des Bündner Amts für Jagd und Fischerei. Der «Blick» schrieb vom frechsten Wolf der Schweiz, die Bauern der Region bezeichnen ihn als Plage und sind doch irgendwie fasziniert vom effizienten Jäger. Einer sagt: «So sehr ich ihn tot wünsche, er ist ein Sibesiech.»

M92, das Leittier des Beverinrudels, mit Beute. Aufnahme einer Fotofalle, 2019. Amt für Jagd und Fischerei GR

M92 ist zum Politikum geworden. Bauern und Kanton wollen ihn abschiessen lassen, während Naturschützer mit einer Online-Unterschriftensammlung für dessen Leben kämpfen.

Mit der revidierten Jagdverordnung gilt seit diesem Sommer: Wolfsrudel dürfen nach zehn gerissenen Schafen oder Ziegen (mit Herdenschutz) reguliert werden. Bei grossen Nutztieren wie Rindern oder Pferden reichen zwei Risse. In der Regel beantragen die Kantone die Rudel-Regulierungen, das Bundesamt für Umwelt (Bafu) entscheidet. Schadenstiftende Einzelwölfe können die Kantone ohne explizite Zustimmung des Bafu abschiessen.

Gerissene Nutztiere in Graubünden
In der Schweiz als Wolfsrisse entschädigte Nutztiere
Quelle: KORA

Wegen M92 sitzt eine junge Frau an ihrem Küchentisch und hadert. Sie will ihre Geschichte erzählen. Jene aus dem vergangenen Sommer, als sie, die Hirtin, oben auf einer Alp zwei verstörende Begegnungen mit dem Beverinrudel hatte. Wochenlang getraute sie sich danach nachts nicht mehr alleine hinaus. «Das vergisst man nicht einfach so», sagt sie.

Sie hadert, weil da auch noch eine andere Geschichte ist; jene, die erst nach der Wolfsbegegnung begann. Die Ereignisse am Beverin riefen schweizweit die Medien auf den Plan. Alle wollten von der Hirtin wissen, wie es ist, von Wölfen umzingelt, von ihnen angeknurrt zu werden. Sie hat sich damals nicht öffentlich geäussert. Bis heute.

Obwohl ihr Name nie bekannt wurde, wusste man im kleinräumigen Bündnerland bald, um wen es ging. Sie habe Todesdrohungen erhalten, behauptet sie. Dazu anonyme, gehässige Nachrichten von Wolfsfreunden via Facebook, die ihr vorwarfen, den Wolf schlecht zu machen, absichtlich die Situation zu dramatisieren. Ihr Bild und ihren Namen will sie darum noch immer nicht öffentlich machen. Ihre Geschichte aber schon. «Alle sollen erfahren, wie es wirklich war.»

Wie lässt sich das Wolfproblem lösen? Behörden, ein Bauer und ein Tierschützer antworten. Video: Tamedia

Kein anderes Tier im Alpenraum ruft ähnlich starke Reaktionen hervor. Seit der Wolf vor 25 Jahren in die Schweiz zurückkehrte, haben sich Fronten gebildet. Besonders deutlich kamen die Trennlinie im Abstimmungskampf um das revidierte Jagdgesetz 2020 zum Vorschein. Obwohl es um viele weitere Tiere ging, um eine längst fällige Revision eines Gesetzes von 1986, hat der Wolf die Debatte dominiert. Man war für oder gegen den Wolf. Und damit für oder gegen das Jagdgesetz.

Hier die Seite der Bauern, die tobend von ihren toten und schwerverletzten Schafen berichten und den Behörden Untätigkeit vorwerfen; dort Naturschützer, die den Wolf zum Symbol einer intakten Natur erkoren haben und vehement um jedes Tier kämpfen. Für Letztere ist der Wolf ein faszinierender Bote der Natur, ein Versprechen auf pure Wildheit. Für die Mehrheit der Bauern hingegen: einer, der ihre Existenz bedroht.

Wer sind die wichtigen Akteure rund um den Wolf?

Urs Leugger-Eggimann ist Naturschützer. Er steht auf der Seite des Wolfs, aber wohl auch irgendwo zwischen den Polen. Denn er sagt: «Mit der Regulierung von Wölfen, die trotz Schutzmassnahmen grosse Schäden anrichten oder sich problematisch verhalten, sind wir einverstanden. Und natürlich müssen wir berücksichtigen, dass dort, wo der Wolf sich ausbreitet, auch Menschen leben und arbeiten.»

Leugger-Eggimann ist Geschäftsführer von Pro Natura. Er will den Wolf weder überhöhen noch verteufeln. «Man muss gerade bei der Wiederausbreitung eines solchen grossen Beutegreifers den Kontext sehen, die Natur im Zusammenspiel.» Das sei beim Wolf, der seit seiner Rückkehr neue Fragen aufwerfe, besonders wichtig. «Wir lernen ständig dazu.» Leugger-Eggimann war als Präsident des Nein-Komitees massgeblich daran beteiligt, dass die Revision des Jagdgesetzes 2020 vom Volk abgelehnt wurde.

Gut ein Jahr später ging es sachlicher zu und her. Offenbar haben alle Beteiligten tatsächlich dazugelernt. Innert nur weniger Monate hat der Bundesrat eine Verordnung ändern lassen und durch die Vernehmlassung gebracht. Das Ziel: die Neuerungen auf den Alpsommer 2021 hin in Kraft zu setzen.

Für Bund und Naturschutzorganisationen der Schlüssel: Schutz durch Zäune und/oder Herdenschutzhunde. Beide Massnahmen werden gefördert und subventioniert, gerissene Nutztiere entschädigt. Während die Bundesbehörden den Herdenschutz als generell gut umsetzbar einschätzen, schlagen besonders die Bergbauern Alarm. Bis zu einem Drittel der Alpwirtschaft seien bedroht. In hohen, humus armen Regionen ist das Aufstellen von Zäunen aufwendig. Und die Arbeit mit Herden­schutzhunden ist kompliziert. Der Aufwand werde, so die Bauern, zu gross.

Am 30. Juni verkündete dann der Bundesrat die neuen Regeln. Neben dem ausgebauten Herdenschutz wurde auch die Regulierung – also das Abschiessen von mehreren Wölfen aus einem Rudel – erleichtert. Urs Leugger-Eggimann von Pro Natura und alle anderen Naturschutzorganisationen trugen diesen gut schweizerischen Kompromiss mit.

Der Mann von Pro Natura anerkennt heute, dass mit der Ausbreitung des Wolfs je nach Situation stärker und schneller reagiert werden müsse. «Besonders bei einem so cleveren Rudel wie dem des Beverin, das wiederholt zumutbare Herdenschutzmassnahmen überwindet.» Ein solches Verhalten sei, sagt Urs Leugger-Eggimann, auch nicht in ihrem Sinn. Er kann darum nachvollziehen, dass das Bundesamt für Umwelt (Bafu) im September entschied, den Abschuss dreier Jungwölfe vom Beverin zu bewilligen.

M92 aber, der Vater, sollte nicht angetastet werden. «Ein Dämpfer», wie die Bündner Behörden danach verlauten liessen. Doch für die Bundesbehörden mangelte es an Nachweisen, konkret: an DNA-Proben, die dem Rüden genügend Risse zuordnen konnten. In zwei Jahren müssen es 60 Prozent der Risse sein. Verletzte Schafe werden nicht gezählt. Rinder und Esel ebenfalls nicht.

Für Urs Leugger-Eggimann von Pro Natura kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu. «Bei einem Leitwolf sollte ein Abschuss besonders sorgfältig abgewogen werden und die Ausnahme bleiben. Denn dessen Eliminierung kann ein Rudel auseinanderfallen lassen.» Der Naturschützer spricht davon, dass einzelne herumstreunende Rudelmitglieder allenfalls noch mehr Schaden in der Region anrichten könnten.

Beim Kanton ist man anderer Meinung. Adrian Arquint vom Bündner Amt für Jagd und Fischerei sieht im M92 den Grund allen Übels. Und gleichzeitig die Lösung des Problems am Beverin. Der Leitrüde sei es, der dem Nachwuchs das problematische Verhalten vorlebe, es ihm beibringe.

Was dies bedeutet, weiss die Hirtin. Auch Monate nach jenem Tag im August, als ihr der Wolf begegnete, erinnert sie sich genau an jedes Detail.

Aufnahmen mit einem Nachtsichtgerät. Jagd des Beverin-Rudels auf Rothirsche, Zillis, April 2021. Quelle: Thomas Dolf

Es ist ihre zweite Saison auf der Alp. Erst im Jahr davor hatte die Frau in den Zwanzigern zum ersten Mal die Verantwortung für die 175 Kühe übernommen; Braunvieh, Limousin, Simmentaler. Die Arbeit als Hirtin ist körperlich anspruchsvoll – und einsam. «Aber ich liebe es», sagt sie. Und sie macht es offenbar gut. Ihre Arbeitgeber, die in einer privaten Alpgenossenschaft zusammengeschlossenen Bauern, haben nichts zu nörgeln.

Die Hirtin erzählt vom strahlenden Sonnenschein, der an diesem Tag herrscht. Der Wolf, der Nebel oder Dunkelheit bevorzugt, wird sich an diesem Nachmittag auf offenem Gelände einem Menschen nähern. Nur ein selbstbewusstes, erfahrenes Tier tut so etwas.

«Ich war auf der Weide, werkelte an einer Wasserleitung am Boden herum, als ich plötzlich ein Knurren hinter mir hörte.» Sie dreht sich um und sieht einen Wolf vor sich. Ob es der Leitrüde ist, kann sie nicht sagen. «Er war jedenfalls gross und keine zehn Meter von mir entfernt.» Ihr Hund, der normalerweise stets an ihrer Seite bleibt, versteckt sich hinter ihr. Wen der Wolf anknurrt, ist unklar. Von den Rufen der Hirtin lässt er sich jedoch nicht beeindrucken. Er blickt sie stumm an. «Wölfe schauen dir immer direkt in die Augen.» Nach ein paar Minuten zieht er wieder davon und lässt einen verstörten Hund und eine konsternierte Sennerin zurück. Es sollte nicht bei dieser Begegnung bleiben.

Die Art wurde in weiten Teilen Europas im 20. Jahrhundert ausgerottet - auch in der Schweiz. Erst 1995 wurde der Wolf hierzulande wieder heimisch. Sie kamen aus Italien, wo sie nie ganz verschwunden waren. Das Raubtier ist geschützt und findet im Alpenbogen mit seine vielen Rothirschen, seiner Leibspeise, ideale Bedingungen vor.

Wolfbestand in der Schweiz
inkl. Welpen und Toten
Quelle: KORA
Wolfsrudel in der Schweiz
 
Quelle: KORA

Was zu einer verängstigten Hirtin führen sollte, beginnt drei Jahre zuvor mit einem Grenzübertritt, über den die Behörden nur Vermutungen anstellen können. Ein einzelner Wolf soll Anfang 2018 irgendwo von Italien herkommend in die Schweiz eingedrungen sein. Im Rheinwald gleich hinter dem San Bernardino findet das Tier perfekte Bedingungen vor: viel Platz und viele Rothirsche, seine Leibspeise. Vor allem trifft er auf ein Weibchen. Die Behörden bezeichnen das Paar fortan als M92 und F37. M und F fürs Geschlecht, durchnummeriert nach Ankunft. Der Rüde vom Beverin muss sich also in einem Gebiet behaupten, das bereits von Dutzenden Artgenossen besetzt ist.

Wolfsrudel in Graubünden
Revier eines Rudels

Im Bündnerland sind zu diesem Zeitpunkt zwei Rudel heimisch, am Calanda und beim Ringelspitz. Und Rudel sind eine ganze andere Sache als Einzeltiere. Im Gegensatz zu umherziehenden Wölfen bleibt es vor Ort, sorgt für viel mehr Risse, mehr Schäden. 3,5 Kilogramm Fleisch frisst ein ausgewachsener Wolf pro Tag. Hochgerechnet auf ein Jahr, entspricht dies ungefähr 16 Rothirschen. Sein Hunger ist besonders gross, wenn Nachwuchs da ist. Die jungen Wölfe müssen gefüttert werden.

Etwa 3,5 Kilogramm Fleisch pro Tag, meist Rothirsche. Aber auch Rehe, Gämsen oder Wildschweine, vornehmlich Frischlinge. Wölfe könne aber auch tagelang keine Nahrung zu sich nehmen. Wenn nötig, fressen sie auch Aas. Wölfe gehen sparsam mit ihren Energiereserven und versuchen Verletzungen vorzubeugen. Daher jagen sie vornehmlich junge, alte, geschwächte oder verletzte Tiere. Haus- und Nutztiere gehören nicht zur natürlichen Beute. Der opportunistische Jäger hat aber gelernt, dass gerade ungeschützte Schafe einfach zu erlegen sind.

Nahrung der Wölfe
Auswertung von 2000 Wolfslosungen in der Lausitz (2001–2009)
Quelle: Nabu

Das ist im Mai 2019 am Beverin der Fall. M92 hat zusammen mit seiner Partnerin F37 neun Welpen gezeugt und sorgt für 32 nachgewiesene Risse, 16 tote Ziegen. Mindestens dreimal soll der Superjäger einen Elektrozaun übersprungen haben. Während die Bauern ihre toten Nutztiere auf den Wiesen und in den Wäldern zusammensuchen , wird ein veröffentlichtes Video der herumtollenden Beverin-Welpen zum viralen Hit.

Die Beverin-Jungwölfe beim Herumtollen. Das Video ging 2019 viral.
Quelle: Amt für Jagd und Fischerei GR, Video: Tamedia

Derweil bewilligt das Bafu den Abschuss von vier dieser Jungwölfe. Die Umweltverbände akzeptieren den Entscheid, zu offensichtlich ist das problematische Verhalten des Rudels. Der Chef aber, M92, bleibt verschont. Sein Status als Vatertier schützt ihn. Die Massnahme, die die opportunistischen Jäger wieder scheuer machen sollte, wirkt jedoch nicht lange nach. Bereits ein Jahr später, 2020, reissen sie ein Kalb, erstmals auch einen Esel. DNA-Proben beweisen die Beteiligung von M92. Einen weiteren Antrag des Kantons, das Rudel zu regulieren, lehnen die Behörden in Bern ab. Begründung: Artenschutz.

Im August 2021 kommt es schliesslich zum zweiten Aufeinandertreffen der Hirtin mit dem Wolf.

Die erste Wolfsbegegnung auf der offenen Wiese liegt eine Woche zurück. Es ist wieder Nachmittag, wieder scheint die Sonne. Eine Stunde Fussmarsch von ihrer Hütte entfernt, kontrolliert die junge Frau ihren Zaun. Ihr Hund ist dabei, wie immer. «Und dann standen sie plötzlich da, leicht über mir.» Drei Wölfe umzingeln die Frau und den Hund. Und dann habe einer angegriffen, erzählt sie, versucht, den Hund in den Nacken zu beissen. «Ich schrie und schrie, fuchtelte mit dem Stock.» Die Wölfe lassen vom Hund ab, verfolgen aber die Hirtin, die sich nun ruhig, aber bestimmt zurückzieht. Nicht rennen. Nicht den Jagdinstinkt wecken. Das weiss auch die Frau, die in den Bergen aufgewachsen ist.

Am Abend geht sie noch einmal ins Gelände, diesmal in Begleitung von zwei befreundeten Bauern. Sie sehen in der Ferne das Rudel, etwa zwölf Tiere. Sicher mit dabei: M92.

Am nächsten Tag kommen die herbeigerufenen Wildhüter zur Hütte. Sie werden dies in den nächsten Wochen täglich tun, vor allem dann, wenn die junge Frau alleine ins Gelände muss. Personenschutz für eine Hirtin. Es ist noch nicht vorbei.

Der Naturpark Beverin. Heimat des berüchtigten Wolfsrudels und beliebtes Wandergebiet. Foto: Beat Schaufelberger

Schweizer Wanderer melden Ende August, im Naturpark Beverin zwei Wölfe in unmittelbarer Nähe gesehen zu haben, wenig später, von Jungwölfen verfolgt worden zu sein. Sie informieren die Polizei. Die Aufregung ist gross. Touristen! Es ist eine nächste Eskalationsstufe. In Graubünden, diesem vom Tourismus so sehr geprägten Kanton, hatte man sich genau davor gefürchtet.

Der Gemeindepräsident der Gemeinde Muntogna da Schons am Schamserberg, selbst Bauer, sprach danach von einer völlig unhaltbaren Situation. Während die Gruppe Wolf Schweiz beschwichtigte und lieber darauf hinwies, dass in Bezug auf die Ereignisse am Piz Beverin Medien und Behörden vereinzelt «klar tatsachenwidrig» von Wolfsangriffen auf Menschen sprachen.

137 Wölfe leben derzeit in der Schweiz (Stand Oktober 2021). Dass man einem dieser Raubtiere begegnet, ist derzeit also verschwindend klein. Von Natur aus ist der Wolf menschenscheu. Laut einer norwegischen Studie sind in Westeuropa von 2002 bis 2020 acht Wolfsangriffe nachgewiesen – keiner endete tödlich. Hunde nimmt das Raubtier aber als Konkurrenten wahr. Sollte es zu einer Begegnung kommen, empfehlen Experten, mit lauter Stimme Präsenz zu markieren; nicht wegrennen, sich langsam entfernen, ohne zu starren.

Urs Leugger-Eggimann von Pro Natura sagt: «Ich verstehe die Angst der Hirtin. Aber: Die Aggression des Wolfs ging offenbar gegen den Hund.» Und im Fall der Touristen könne von keinem aggressiven Verhalten ausgegangen werden.

Weniger locker sieht es Adrian Arquint. Der Bündner Amtsvorsteher bezeichnet die Lage als ernst. «Vor allem im Rudelverband ist ein solches Verhalten der Beginn einer Habituierung, die problematisch enden kann.» Die Bündner prüfen darum den Entscheid des Bafu und unter Umständen den Gang vor das Verwaltungsgericht.

«Der Abschuss von M92 zum richtigen Zeitpunkt wäre sinnvoll», sagt Arquint. In anderen Worten: M92 soll sterben. Endlich.

Für das Bundesamt für Umwelt (Bafu) ist das Vorgehen des Kantons «ein normales Verfahren». Doch für die Bundesbehörden sei ein Abschuss von Elterntieren nur im Ausnahmefall und unter bestimmten Bedingungen erlaubt. «Diese Bedingungen waren beim Beverinrudel nicht gegeben.» Das Bafu verweist aber noch einmal darauf, dass auf der Basis des Jagdgesetzes und der per Mitte Juli 2021 revidierten Jagdverordnung dem Anliegen des Kantons entsprochen worden sei, drei Jungwölfe abzuschiessen.

Zweimal geschah dies mittlerweile: am 8. September, nur zwei Tage nach der Bewilligung. Einen dritten Abschuss haben die Bündner Behörden also noch frei. Bis März bleibt Zeit. Die Wildhüter werden warten und erst schiessen, wenn das Rudel in die Nähe einer Siedlung, eines Stalls kommt. Der Lerneffekt soll möglichst gross sein, die Botschaft klar: Kommt ja nicht in die Nähe der Menschen!

Die Wölfe des Beverinrudels werden aber genau dies tun. Dann, wenn der grosse Schnee kommt. M92 wird ihnen den Weg zeigen. Ihm wird nichts passieren. Bis auf weiteres.