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«Ohne Wirkmittel wird uns das Virus bis mindestens Ende 2021 beschäftigen»

Manuel Battegay ist Mitglied der Swiss National Covid-19 Science Task Force.

Marc Brupbacher

Der Bundesrat lockert die Massnahmen, obwohl es täglich noch über 200 bestätigte Covid-19-Neuerkrankungen gibt. Ist das nicht gefährlich?

Es ist richtig, wenn der Bundesrat jetzt ein sehr kalkuliertes Risiko eingeht und die Massnahmen lockert, auch wenn noch nicht alle Konsequenzen absehbar sind. Wichtig ist, dass die Lockerung schrittweise vollzogen wird und dass jeweils analysiert wird, was sich wie auswirkt. Da viele andere Länder genau gleich vorgehen, können wir auch von deren Erkenntnissen profitieren. In der Schweiz sind jetzt genügend Kapazitäten für eine offensive Teststrategie vorhanden. Es ist gut, dass neu alle Personen mit Symptomen einer akuten Atemwegserkrankung getestet werden können – sinnvollerweise auch bei sehr milden Symptomen. Auch werden bald genügend Schutzmasken vorhanden sein, um überall dort eingesetzt zu werden, wo sie benötigt werden. Dazu wird es bald eine Contact-Tracing-App geben.

Innenminister Alain Berset hat immer von einem Marathon gesprochen. Plötzlich scheint aber Ungeduld vorzuherrschen.

Ungeduld ist auch produktiv, es geht darum, dass wir uns schnell und gezielt Richtung Ziel bewegen; das machen wir. Erst die retrospektive Analyse wird zeigen, ob wir überall optimal gehandelt haben. Jetzt müssen wir aber vorwärtsschauen, und da sehe ich keine Alternativen zum Konzept des kalkulierten Risikos. Das Ziel ist klar: das Gesundheitswesen gesamthaft auf höchstem Niveau zu halten sowie das wirtschaftliche und soziale Leben so schnell als möglich in Gang zu bringen.

Manuel Battegay
Manuel Battegay ist seit 2002 Chefarzt der Klinik Infektiologie & Spitalhygiene am Universitätsspital Basel und seit 1994 am Universitätsspital Basel tätig. Er ist auch Teil der Leitung der Taskforce Covid-19 des Universitätsspitals Basel und Mitglied der Swiss National Covid-19 Science Task Force.

Wie hat die Schweiz bisher diesen Ausbruch bewältigt?

Gut! Wir mussten die Grenzen der intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten nicht ausloten. Alle Patienten konnten betreut werden. Das ist in anderen Ländern leider nicht so. Letztlich mussten starke Massnahmen rechtzeitig ergriffen werden, um die unkontrollierte Ausbreitung des Virus zu verhindern, sonst würde die Schweiz heute deutlich mehr Tote verzeichnen.

Aber es gab auch Probleme, beispielsweise, was die Verfügbarkeit von Daten anbelangt, oder auch das Fehlen von Tests und medizinischem Schutzmaterial.

Das Monitoring der Epidemie in der Schweiz und der weltweiten Pandemie ist ganz wesentlich. Das nationale Meldewesen muss tatsächlich verbessert werden, beispielsweise für klinisches Geschehen und Testresultate. Wir müssen auch wegkommen vom nachgelagerten Meldewesen zu einem dynamischen Monitoring, das erlaubt, frühzeitig zu erkennen, ob Massnahmen greifen, und was präventiv angeordnet werden muss. Je mehr wir wissen, desto besser können wir entscheiden und wissenschaftlich basierte Empfehlungen abgeben.

Bieten Masken nun einen Schutz für die breite Bevölkerung? Soll jeder sie tragen?

Wir haben, was die breite Bevölkerung angeht, keine abschliessende Evidenz. Anders ist es bei Pflegeberufen, wo eine gesicherte Datenbasis besteht. Es ist aber anzunehmen, dass die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung durch das Tragen von Masken reduziert wird. Die pragmatische Antwort lautet: Ja, insbesondere in Innenräumen, wo ein Abstand von zwei Metern nicht immer eingehalten werden kann, und in öffentlichen Verkehrsmitteln. Für den Aussenbereich muss noch weiter evaluiert werden, wo und unter welchen Umständen Masken wirklich nötig sind.

War man gut genug auf eine Pandemie vorbereitet in der Schweiz?

Aus der Schublade konnte man die Pläne, die jetzt in den letzten Monaten umgesetzt wurden, nicht ziehen. Aber, sind wir ehrlich: Die wenigsten von uns bereiten sich auf alle sehr unwahrscheinlichen Extremrisiken vor. Wie die Erfahrung zeigt, waren diejenigen Länder am besten vorbereitet, die von vorangegangenen Epidemien am schwersten betroffen waren. Die Schweiz gehört nicht zu diesen Ländern, und auch von den Ländern mit einschlägigen Erfahrungen waren nicht alle gut vorbereitet. Da müssen wir demütig sein und nun alles daransetzen, diese Pandemie gut durchzustehen. Wie gesagt, es kam in der Schweiz nicht zu katastrophalen Zuständen und sehr langem Lockdown. Später müssen wir, wenn die Pandemie abgeklungen ist, die Verhältnisse analysieren und die Lehren für eine nächste Epidemie ziehen.

Bräuchte es jetzt nicht mehr repräsentative Antikörpertests in der Gesamtbevölkerung, um herauszufinden, wie viele schon in Kontakt mit dem Virus kamen?

Ja – aber die Studien wollen überlegt sein. Zuerst müssen wir validierte Tests haben, die hohen Ansprüchen genügen. Dann müssen wir prüfen, ob positiv angebende Tests mit neutralisierenden Antikörpern auch wirklich mit Schutz korrelieren. Stichproben mit einer entsprechenden Validierung sollten auch im Gesundheitswesen durchgeführt werden. Grossflächiges serologisches Testen in der Gesamtbevölkerung ergibt zurzeit aber wenig Sinn. Aufgrund der tiefen Durchseuchungsrate (diese beträgt gemäss einer gerade publizierten Studie in Genf und Umgebung 5,5 Prozent) werden viele Tests falsch positiv sein. Das heisst positiv, obwohl gar keine Infektion durchgemacht wurde. Diese Tests werden sich in den nächsten Monaten verbessern. Dagegen ist der PCR-Test, also der direkte Virusnachweis, sehr verlässlich und soll nun auch bei milden Beschwerden immer durchgeführt werden.

Wie kommen wir durch die nächsten Monate? Was ist die beste Strategie, um mit dem Virus koexistieren zu können?

Eine soeben im Fachmagazin «Science» publizierte Analyse namhafter amerikanischer Wissenschaftler zeigt, dass uns diese Pandemie leider noch bis ins Jahr 2022 begleiten könnte. Die wichtigsten Parameter, um die Dauer der Pandemie abschätzen zu können, sind die Dauer der Immunität Einzelner, wie gut eine Impfung sein wird und ob wirksame Medikamente vorliegen. Solange keine entscheidenden Fortschritte bei der Suche nach medizinischer Linderung gemacht werden, ist Social Distancing ganz entscheidend, auch wenn im Sommer eventuell durch hohe Temperaturen und mehr Trockenheit eine Abflachung der Infektionsraten möglich ist. Ohne Einhaltung dieser Massnahme ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass es wieder zu einem steilen Anstieg der Patientenzahlen kommen wird, spätestens im Herbst oder Winter. Es braucht Hygieneregeln, Masken, ein möglichst breites Testen der Bevölkerung und das ständige Rückverfolgen und Isolieren von Infizierten und deren Kontaktpersonen. Ohne das geht es nicht.

Sie sehen täglich selbst Covid-19-Patienten am Universitätsspital in Basel. Wie sind die Krankheitsverläufe?

Die Hauptbetreuung findet auf der Notfallstation, den Covid-Stationen der Inneren Medizin und der Intensivstation statt. Die Gefährlichkeit dieses Virus ist um ein Vielfaches höher als die der Grippe. Nebst dem Alter sind nun weitere Risikofaktoren besser definiert. Wir erkennen jetzt besser, welche Komorbiditäten in welchem Umfang wie zum Krankheitsverlauf und auch zum Tod führen können. Wir betreuen auch jüngere Menschen, aber selten unter 40 Jahren. Gesamthaft entspricht der Krankheitsverlauf den publizierten Studien, bei etwa 80 Prozent der Patienten zeigt sich ein milder oder recht milder Verlauf. Bei den hospitalisierten Patienten am Universitätsspital Basel konnte die Krankheit in 90 Prozent aller Fälle stabilisiert werden. Leider sind bei uns knapp 10 Prozent der Patienten mit schwerer Covid-19-Krankheit verstorben. Das ist im Vergleich mit vielen anderen Ländern ein sehr guter Wert. Dies gilt auch für die Gesamtbetreuung in der Schweiz.

«Aber die Ansteckung eines Mitarbeiters ist belastend. Wir unternehmen wirklich alles, um das zu verhindern.»

Die grosse Welle ist in der Schweiz nie angekommen. Wie ist die Auslastung in Basel am Unispital?

Die Auslastung nimmt deutlich ab. Wir betreuten in der letzten Woche insgesamt zwischen 30 und 40 Patienten, davon 7 intensiv. Die grosse Welle hat die Schweiz regional unterschiedlich getroffen. Die Welle ist nicht höher geworden, weil frühzeitig ein Lockdown angeordnet wurde, auch weil Grossanlässe wie die Basler Fasnacht und der Genfer Automobilsalon abgesagt wurden. Hätte der Bundesrat nur eine oder zwei Wochen länger zugewartet, hätten wir heute viel schlimmere Zustände. Zu Beginn verlief die Kurve der Ansteckungen exponentiell. Die Belegung der Intensivstationen nahm in der Romandie innert einer bis zwei Wochen derart zu, dass es höchstwahrscheinlich zu Kapazitätsüberlastungen gekommen wäre.

Hier liegen noch 7 Covid-Patienten auf der Intensivstation: Das Universitätsspital Basel. Foto: zvg.

Wie gefährlich ist das Coronavirus nun für Kinder? Das Bundesamt für Gesundheit löst mit seinen Einschätzungen immer wieder Verunsicherung aus.

Die Rolle der Kinder und Jugendlichen bei der Übertragung von Sars-CoV-2 ist noch ungewiss. Was sich bestätigt hat, ist, dass Kinder und Jugendliche nur sehr selten schwer erkranken. Das ist auch unsere Erfahrung in Basel. Zum Glück! Kinder machen auch seltener eine Infektion durch. Ebenfalls Gegenstand von Studien ist, ob und in welchem Grad Ausbrüche von Kindern ausgehen. Aber was jetzt schon klar ist: Kinder sind nicht die «Treiber» dieser Pandemie.

Man hört, dass sich Patienten mit dringenden medizinischen Problemen nicht mehr ins Spital trauen. Ist das bei Ihnen auch so?

In der ganzen Schweiz stellen wir und auch Ärzte in Praxen fest, dass Patienten sich zu spät in Behandlung begeben. Es ist essentiell, dass Personen mit dringlichen medizinischen Problemen sich ärztlich betreuen lassen. Und auch bei Patienten mit chronischen Krankheiten können Kontrollen nicht einfach länger aufgeschoben werden. Die Angst, sich anzustecken, ist unbegründet. Spitäler wie Praxen haben entsprechend sehr gute Vorkehrungen getroffen.

Sorgen Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen sich eigentlich vor einer Ansteckung?

Diese Sorge ist tatsächlich gross und begleitet mich jeden Tag. Als Betreuende möchten und müssen wir beistehen und helfen, aber wir sind keine Stoiker. Wir sehen ja, dass sich das Spitalpersonal auf der ganzen Welt ansteckt und ein höheres Risiko hat, sehr schwer zu erkranken. Glücklicherweise sind Übertragungen in der Schweiz im Gesundheitsbereich bis anhin recht selten, und es ist meines Wissens auch keine Pflegeperson oder Ärztin oder Arzt gestorben. Aber die Ansteckung eines Mitarbeiters ist belastend. Wir unternehmen wirklich alles, um das zu verhindern.

Warum waren Länder wie Frankreich, Spanien, Italien die Westschweiz und das Tessin so stark betroffen? Gibt es auch kulturspezifische Gründe?

Zuerst denkt man an die Altersstrukturen oder die Prävalenz von Begleitkrankheiten wie Bluthochdruck, Diabetes oder Übergewicht. Wir können damit nicht alles erklären. Gesamteuropäische Forschungsinitiativen untersuchen, ob zum Beispiel genetische Faktoren eine Rolle spielen. Eventuell besteht insbesondere in nördlichen Ländern wie Deutschland und Schweden ein Kreuzschutz, der durch harmlose, häufig vorkommende Coronaviren bedingt ist. Letztere haben aber in südlicheren Ländern bei höheren Temperaturen nie wirklich zirkuliert. Aber diese These ist spekulativ.

Sie erforschen Viren und Bakterien schon seit vielen Jahren. Was hat Sie an Sars-CoV-2 bisher am meisten überrascht?

Etwas Naheliegendes: dass ein Virus mit der gemeinen Kombination einer hohen Verbreitungsfähigkeit und einer erhöhten Sterblichkeit einfach «da ist».

Wie stark würde uns ein wirklich heisser Sommer helfen, das Virus einzudämmen?

Aussagen hierzu sind hochspekulativ. Erstpandemien verlaufen weniger nach saisonalen Mustern. Trotzdem könnte der Sommer helfen, durch mehr UV-Licht, die Trockenheit und mehr Aussenaktivitäten die Verbreitung des Virus um 20 bis 30 Prozent zu reduzieren. Zusätzlich ist die Körperabwehr im Sommer deutlich robuster. Trotzdem: Wenn das Virus nicht ganz verschwindet, wovon wir ausgehen müssen, wird ein Sommer nicht dazu beitragen, dass es im Herbst/Winter nicht wieder zu Ausbrüchen kommen wird. An den beschriebenen Massnahmen führt also kein Weg vorbei.

«Realistisch, ja optimistisch ist, dass ein Impfstoff, und dies wäre bereits ganz hervorragend, Mitte 2021 da ist.»

Der deutsche Virologe Christian Drosten sagt, für diesen Ausbruch würden weder Medikamente noch Impfstoffe rechtzeitig da sein. Der Immunologe Martin Bachmann vom Inselspital Bern möchte hingegen schon im Oktober die ganze Schweiz impfen. Was ist Ihre Einschätzung, wann haben wir medizinische Wirkmittel?

Drosten schätzt dies realistisch ein. Natürlich hoffe auch ich, dass der Immunologe Martin Bachmann recht hat. Realistisch, ja optimistisch ist, dass ein Impfstoff, und dies wäre bereits ganz hervorragend, Mitte 2021 da ist. Gleiches gilt für hochspezifische neue Medikamente. Aber ich freue mich über jede frühere Ankunft.

Mehrere Schweizer Spitäler testen ab dieser Woche Medikamente (das Malariamittel Hydroxychloroquin sowie Remdesivir und Kaletra gegen Ebola und HIV) für die WHO. Sie machen auch mit, was erhoffen Sie sich?

Auch das Universitätsspital Basel nimmt an diesem Solidarity Trial teil. Während für Hydroxychloroquin bis anhin, insbesondere wenn es spät gegeben wird, keine Evidenz besteht, dass es wirkt, zeigt sich bei Kaletra ein Trend, wenn es nicht sehr spät gegeben wird, dass es wirken könnte. Für Remdesivir zeigte eine erste Studie, obwohl auch dieses Mittel spät gegeben wurde und wird, eine gewisse Wirkung. Insofern erhoffe ich mir mehr Klarheit über diese Medikamente. Ich möchte aber betonen, dass Medikamente gegen eine akute Virusinfektion immer möglichst früh gegeben werden sollten und wir dies auch für Hydroxychloroquin prüfen müssen.

In einer Studie der Universitätsklinik in Chicago führte das ursprünglich gegen Ebola entwickelte Mittel Remdesivir zu einer schnellen Fiebersenkung und einem Rückgang der Symptome der Lungenkrankheit, sodass fast alle Patienten in weniger als einer Woche entlassen werden konnten. Sie haben das Medikament auch schon eingesetzt. Was sind Ihre Erfahrungen?

Remdesivir setzen wir vereinzelt ein, können aber über die generelle Wirkung noch keine belastbare Aussage machen. Bei einzelnen Patienten sahen wir den gleichen Effekt, den die Chicago-Studie beschrieben hat. Es ist bei sehr kleinen Fallzahlen schwierig abzuschätzen, ob dieser Effekt auf einer spontanen Besserung gründet oder dem Medikament zuzuschreiben ist. Dies wird in grösseren Studien klarer ersichtlich sein.

«Für dieses Jahr bin ich skeptisch, dass ganz spezifisch für das Sars-CoV-2-Virus Medikamente zum breiten Einsatz kommen.»

Remdesivir wurde Ihnen nicht mehr geliefert vor einigen Wochen, verfügen Sie wieder über Medikamente?

Wir dürfen Remdesivir im Solidarity Trial der WHO und in einem sogenannten Early-Access-Programm verabreichen. Es sind insgesamt nur wenige Patienten, die infrage kommen. Zudem sind die Kriterien der Verabreichung streng; wir dürfen es nur sehr spät bei Patienten auf der Intensivstation geben.

Wird es noch dieses Jahr neue gegen Sars-CoV-2 zugelassene Medikamente geben?

Für dieses Jahr bin ich skeptisch, dass ganz spezifisch für das Sars-CoV-2-Virus Medikamente zum breiten Einsatz kommen. Ich bin aber zuversichtlich, dass dies im Jahr 2021 der Fall sein wird und wir dann viel wirksamere Mittel zur Verfügung haben werden. Auch wenn schon ein Impfstoff da sein sollte, helfen Medikamente trotzdem. Falls die Impfung jährlich oder alle zwei Jahre wiederholt werden muss oder wie bei der Grippe immer wieder adaptiert werden müsste, ist eine Therapie ein sehr wichtiger Pfeiler, um die Krankheits- und Sterblichkeitsrate zu senken. Ich denke aber schon, dass aktuell greifbare Therapien bei manchen Patienten wirksam sind und sein werden, auch wenn hier noch belastbare Studien fehlen. Wir sprechen von «Repurposing», das heisst, Medikamente mit einer vorbestehenden Indikation werden mit neuer Indikation Covid-19-Patienten verabreicht. Zum Beispiel Tocilizumab, ein Mittel, das die Entzündungskaskade spezifisch hemmt und bei rheumatologischen Krankheiten eingesetzt wird. Hier haben wir doch bei manchen Patienten eine Wirkung gesehen. Aber auch hier fehlen vergleichende Studien.

Das hört sich jetzt alles nicht nach Wundermitteln an, welche die Sterberaten deutlich senken könnten.

Das stimmt – es kann aber sein, dass gerade die Mittel gegen das Virus zu spät eingesetzt werden. Auch der Zeitpunkt der entzündungshemmenden Medikamente ist nicht ausgelotet. Die Phase-3-Studie von Remdesivir könnte ein unterschiedliches Resultat zeigen, wenn es früher gegeben würde. Da braucht es noch sehr viele Studien. Ich hoffe schon, die Sterblichkeit bereits dieses Jahr signifikant reduzieren zu können.

Eine weitere Strategie, die auch in Basel zum Einsatz kommt, ist der Einsatz von Plasma von genesenen Covid-19-Patienten. Können die aus dem Blut gewonnenen Antikörper schwer Erkrankten helfen? Machen Sie eine Studie, oder sind es nur Behandlungsversuche?

Bei uns kam der Einsatz von Plasma bis anhin bei sieben Patienten zur Anwendung. Wir haben in Zusammenarbeit mit einem Forschungsinstitut messen können, wie genau das Spektrum von neutralisierenden Antikörpern im Spender ist. Das wird helfen, zu überprüfen, ob das Plasma wirkt.

Bisher weiss man also noch nicht, ob es wirkt?

Zuerst geht es um die Sicherheit; bei den ersten sieben Behandelten zeigten sich keine Nebenwirkungen. Wir sind daran, eine Studie anzuschliessen, und stehen auch mit weiteren Studienzentren der Schweiz in Kontakt, um die Protokolle anzugleichen, um mit grösseren Patientenzahlen aussagekräftigere Resultate zu erhalten.

Und wie lange ist man jetzt eigentlich nach durchstandener Krankheit immun?

Das ist die grosse Frage. Wir gehen davon aus, dass wir gegen die üblichen, harmlosen Coronaviren für knapp ein Jahr immun sind. Das kennen Sie, wir können auch jedes Jahr aufs Neue an einem Schnupfen erkranken. Bei Sars-CoV-1, einem dem aktuellen Coronavirus sehr ähnlichen Virus, dauerte die Immunität länger, nämlich rund zwei Jahre. Wir wissen nicht, wie lange die Immunität beim aktuellen Virus dauert. Dies ist eine der wichtigsten Fragen, denn diese bestimmt, wie lange eine Person geschützt ist, aber auch, wie häufig mit neuen Ausbrüchen zu rechnen ist.

In der chinesischen Stadt Wuhan häufen sich Fälle von Covid-19-Patienten, die nach überstandener Erkrankung das Virus weiter in sich tragen.

Das erstaunt mich nicht. Wir sehen dies auch bei der Grippe, dass bei einzelnen Patienten mit schwerem Verlauf und einer Abwehrschwäche das Virus länger nachweisbar sein kann. Es sind wohl nur sehr wenige Covid-19-Erkrankte, bei denen sehr lange Virusausscheidungen vorhanden sein dürften.

Kommt die Epidemie zurück, sobald die jetzigen Einschränkungen gelockert werden?

Ja – im Sommer eventuell weniger stark. Wenn das Virus nicht ganz aus der Zirkulation verschwindet, wovon wir ausgehen, kommt bei einer Lockerung der Massnahmen die Epidemie zurück. Es sind noch viel zu wenige Menschen, selbst in Italien, Schweden und Spanien, durchseucht, als dass diese Epidemie nicht zurückkommen könnte.

Virologe Drosten hat das Szenario einer zweiten Welle skizziert, die im Herbst härter zuschlagen könnte, als es jetzt der Fall war. Weil sich das Virus langsam im ganzen Land unter dem Mantel der Massnahmen ausbreitet und dann überall Infektionsherde entstehen. Was halten Sie von solchen Szenarien?

Wenn wir die Situation nicht überwachen, ist dies ein vorstellbares Szenario. Gerade beim Übergang zu nass-kaltem Wetter müssen wir wachsam bleiben, damit dies nicht geschieht.

«Eine Durchseuchung halte ich nicht für das richtige Konzept.»

Infektionen bei Jungen zulassen, bis eine breite Immunität erreicht ist, und gleichzeitig Risikogruppen schützen: Diese Kombination schlägt der St. Galler Infektiologe Pietro Vernazza in einem Diskussionsbeitrag vor. Was halten Sie von dieser gezielten Schaffung einer Herdenimmunität?

Bisher haben alle westlichen Nationen eine Durchseuchungsstrategie aufgegeben – selbst Schweden hat Massnahmen eingeführt. Das Gesundheitswesen war gefährdet, und es starben zu viele Menschen. Wir werden hoffentlich noch in diesem Sommer in weiteren Stichproben mehr erfahren, wie viele Menschen wirklich infiziert waren. Selbst bei hoher Durchseuchung ist diese Pandemie nicht notwendigerweise bezwungen, da die Immunität sehr wahrscheinlich nicht lebenslang bleibt. Insofern gilt es jetzt, Zeit zu gewinnen für bessere Medikamente und/oder eine Impfung. Eine Durchseuchung halte ich nicht für das richtige Konzept.

Sie sind Chefarzt an der Klinik für Infektiologie. Wie sehr haben Sie eigentlich mit einem solchen Szenario gerechnet während Ihrer Laufbahn?

Als Student erlebte ich das Aufkommen von Aids und die Entdeckung des HI-Virus, das sich weltweit ausbreitete. 2003 kam Sars. Und dann jährlich die Entdeckung neuer Bakterien und Viren. Konkret damit gerechnet habe ich nicht. Ich habe aber mit Kolleginnen und Kollegen solche Szenarien immer wieder diskutiert, auch mit Studenten, aber es blieb letztlich für mich unwirklich. Ich habe mir dieses Jahr so nicht vorgestellt, weder beruflich noch im privaten Leben.

Wann werden Grosseltern ihre Enkel wieder sehen können?

Wir müssen herausfinden, wie und bei welchen Aktivitäten das Risiko da ist. Die Frage hat eine gesellschaftspolitische, menschliche Dimension, wo wir Wissenschaftler und Kliniker «nur» die Basis für eine Diskussion legen sollten. Die Frage lautet: Welches Risiko ist wer bereit einzugehen, ohne dass Dritte dadurch belastet werden? Dies beschäftigt meine Frau und mich sehr, denn wir sind seit gut zwei Jahren Grosseltern, und wir besprechen dieses Abwägen sehr intensiv – wir haben unsere Grosskinder seit vielen Wochen nicht mehr gesehen, und wir vermissen sie sehr.

«Ich hoffe, dass wir uns wieder die Hände schütteln können und uns auch bei Freude, Sorge und Trauer berühren und umarmen dürfen.»

Wie wird das Leben in der Schweiz in einem Jahr, im April 2021, aussehen?

Ich hoffe auf Folgendes: Wir verfügen über Medikamente, welche die Sterblichkeit um mindestens 30 bis 50 Prozent senken können. Eine vielversprechende Impfung bewegt sich Richtung Zulassung oder ist vielleicht schon zugelassen. Wir kennen die Risikofaktoren noch besser und wissen, wo und wie wir uns optimal schützen, und wir haben auch ausgelotet, welche medizinischen Massnahmen am besten wirken. Ohne Medikamente und Impfung wird uns dieses Virus bis mindestens Ende 2021 stark beschäftigen. Ich hoffe sehr, dass die Forschung hier einen Ausweg findet.

Sie haben vor einem Monat erzählt, dass Sie einen Schlafsack und eine Matte ins Unispital mitgenommen haben. Kamen die mal zum Einsatz?

Dreimal habe ich mich über Tag für einen kurzen 15-Minuten-«Nap» hingelegt. Es wirkte auch gut, aber irgendwie bin ich nicht wirklich der Typ dazu.

Werden wir uns je wieder die Hände schütteln, oder wird das ein Ritual sein, welches mit der Corona-Pandemie verschwinden wird?

Ich hoffe, dass wir uns wieder die Hände schütteln können und uns auch bei Freude, Sorge und Trauer berühren und umarmen dürfen.

Wenn Jahre später die nächste Pandemie droht, wird die Welt und auch die Schweiz besser vorbereitet sein?

Ich bin wie gesagt demütig – leider sind noch schlimmere Szenarien denkbar. Wir müssen die Wahrscheinlichkeiten senken, dass derartige Pandemien wieder auftreten. Der Zusammenhang mit Tieren ist gegeben. Bis anhin entstammen derart viele Viruserkrankungen den Tieren, dass hier die Prävention äusserst streng gehandhabt werden muss – gerade in China, aber auch anderswo, wo Wildtiermärkte noch erlaubt sind. Die Gefahr für die Menschheit ist viel zu gross.